Hommage an Rossini


Gioachino Rossini gehört zu den erstaunlichsten und eigenartigsten Musikerpersönlichkeiten des letzten Jahrhunderts. Sein Leben umfasste eine Periode, die kurz nach der französischen Revolution begann und fast bis zum Niedergang des dritten Kaiserreiches reichte, nämlich von 1792 bis 1868. Dass er ausgerechnet an einem Schalttag, dem 29. Februar geboren wurde und sein Todestag im November auf einen Freitag den 13. fiel, setzt seinen Lebensdaten zwei markante Eckpunkte auf, doch bestimmten Daten und Zahlen sein Leben ebenso wie die Musik. Oft deckten sich wichtige Abschnitte in seiner Karriere mit politischen Ereignissen. Seine künstlerisch fruchtbarste Phase, die sogenannten Neapolitaner Jahre, begann just 1815 mit dem endgültigen Ende der napoleonischen Ära und der erneuten Herrschaft der Bourbonen: Rossini wurde der ideale Komponist der Restauration. Seine französische Phase begann er mit einer Krönungsoper für den neuen König Karl X., dessen Sturz sich fünf Jahre später mit dem plötzlichen Ende von Rossinis Karriere als Opernkomponist deckte. Das war seine ganz persönliche, in der Musikgeschichte einmalige Art des unvermittelten Verstummens eines Genies: statt wie Pergolesi, Mozart, Bellini, Schubert oder Chopin früh zu sterben, zog er sich auf dem Höhepunkt seines Ruhms zurück.

Und dass diese Wende 1830 genau in der Mitte seine Lebens eintraf, entspricht, um es mit Paolo Isotta zu sagen, jener „Geometrie des Schicksal“, die sich auch in anderen Punkten seiner Karriere bemerkbar machte. Während einer knapp 20jährigen Aktivität schrieb er rund vierzig Opern; genau in der Mitte seiner Schöpfungen steht als zwanzigste Oper La Cenerentola, mit welcher er das Genre der Opera buffa auf seine Art vollendete. Zwischen seinem ersten grossen Durchbruch mit Tancredi von 1813 und seiner letzten für Italien geschriebenen Oper Semiramide von 1823 liegen genau zehn Jahre, und es ist ein seltsamer Zufall, dass diese beiden so wichtigen Meilensteinen in Zusammenarbeit mit dem selben Librettisten, Gaetano Rossi, beide nach Tragödien von Voltaire, beide für Venedig und für das selbe Theater La Fenice entstanden sind.

Bei soviel geometrischer Schicksalhaftigkeit verwundert es nicht, dass Rossini selbst einen ausgesprochenen Ordnungssinn hatte und klare Strukturen liebte. Es mag an der Erfordernissen des venezianischen Kleintheaters San Moisè gelegen haben, dass alle seine dort entstandenen Farse strukturell einander wie Ostereier gleichen; aber auch in seinen folgenden Werken, komischen und ernsten, und nicht zuletzt in seinem sprühenden Ouvertüren ist ein klarer, rossinischer Archetypus festzustellen. Und sein letztes Werk, Guillaume Tell, ist von der kleinsten musikalischen Zelle bis hin zur Aktaufteilung auf die vierteilige Form aufgebaut. Seine Péchés de vieillesse, die Alterssünden, ordnete er nach klaren Richtlinien in jeweils zwölfteilige Alben. Auch in seiner Wohnung widerspiegelte sich die Ordnungsliebe, wo nicht nur die Möbel ihren unverrückbaren, untereinander abgestimmten Platz hatten, sondern auch seine Perücken und seine Schreibwerkzeuge gradlinig aufgereiht waren.

Dieser Ordnungssinn passt ebenso schlecht zum Künstlertypen wie seine Geschäftstüchtigkeit. Im Gegensatz etwa zu einem Mozart starb Rossini als reicher Mann, und sein Nachlass bildet noch heute die Basis der Rossini-Stiftung in seiner Geburtsstadt Pesaro. Obwohl (oder gerade weil) in armen Verhältnissen aufgewachsen, entwickelte Rossinis schon als Knabe eine ausserordentliche Fähigkeit für geschäftliche und finanzielle Belange. Seine Beharrlichkeit auf diesem Gebiet liess ihn auch nicht vor langen Rechtsstreitigkeiten zurückschrecken, ob er nun gegen die französische Regierung eine lebenslängliche Rente durchsetzt oder einen Verleger wegen unerlaubter Veröffentlichung seiner Stabat Maters verklagte.
Trotz seiner einfachen Erziehung bewegte sich Rossini selbstsicher und jovial im Kreis der gehobenen Gesellschaft und der gekrönten Häupter. Später war ihm daran gelegen, seinem Ruf als Konservativer Gegensteuer zu bieten. Denn nebst einem patriotischen Rondò in seiner Italiana in Algeri oder dem ganzen Guillaume Tell ist selbst die Krönungsoper Il viaggio a Reims mehr eine Persiflage denn eine Huldigung. Dabei war er aber alles andere als ein Revolutionär, hatte doch die Gefängnisstrafe seines Vaters, der als „echter Republikaner“ galt, ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlt. Rossini war eigentlich ein unpolitischer Mensch, der sich mit den Mächtigen arrangierte und vor allem seinen Frieden wollte.

Dass Rossini ein Geniesser der Tafelfreuden war, belegen zahlreiche, teils zu literarischen Leckerbissen gewordene Dankesbriefe an Freude, die ihn mit Spezialitäten versorgten. Allerdings gehört es zu den zähesten Legenden um die Person des Maestro, dass er die Schreibfeder mit dem Kochlöffel vertauschte und zum Erfinder kulinarischer Kompositionen wurde; nicht einmal ein immer wieder zitiertes Rezept für eine Salatsauce stammt von ihm.
Rossini war eine zu vielschichtige Persönlichkeit, um einfach der lebensfrohe Geniesser und ausgelassene Optimist zu sein, den seine spritzige Musik zu verraten scheint oder den uns die Legende schildert. Hinter des Maske des Farceurs und der geistvollen Bonmots versteckt sich ein zutiefst skeptischer Mensch. Seine Sätze strotzen vor Doppel- und Dreisinnigkeiten, die den Angesprochenen systematisch auf Abwege führen. So besitzt denn auch seine Musik oft einen doppelschneidigen Charakter und bei einem Menschen, der das ungetrübte Glück längst als Illusion erkannt hat, kann es nicht verwundern, dass manch ein Happy-End-Finale bei genauer Betrachtung einen nachdenklichen Unterton enthält.


Gioachino Rossini war die Kunst in die Wiege gelegt worden: Sein Vater war Hornist, seine Mutter Sängerin. Schon früh reiste er mit den Eltern von Theater zu Theater. Seine Jugend erlebte er vor allem in der Romagna mit dem Zentrum Bologna, wo er die musikalischen Studien erhielt und sich autodidaktisch die deutschen Meister Haydn und Mozart aneignete, was zu jener Zeit alles andere als selbstverständlich war. Seine Karriere als Opernkomponist lässt sich in drei Phasen aufteilen: von 1810 bis 1814 komponiert er im Norden Italiens, im Dreieck Venedig-Bologna-Mailand. In rascher Abfolge lieferte er Einakter, komische und ernste Opern. La pietra del paragone (Die Liebesprobe) machte ihn 1812 an der Mailänder Scala über Nacht bekannt, während Tancredi im folgenden Jahr seinen Ruf auch als Komponist ernster Opern festigte. 1815 holte ihn der mächtige Theaterimpresario Barbaja nach Neapel, wo er rasch Musikdirektor wurde; bis 1822 dauerte diese zweite Phase, während der seine ambitiösesten Schöpfungen entstanden, allesamt ernste Opern, darunter Elisabetta regina d'Inghilterra, Otello, Mosè in Egitto, Ermione, Maometto II und Zelmira. Gleichzeitig fuhr er fort, für andere italienische Städte in einem konventionelleren Stil zu schreiben, darunter auch komische Werke, darunter der Barbiere di Siviglia. Diese beiden Linien verschmolz und besiegelte er 1823 mit seiner letzten für Italien geschriebenen Oper Semiramide. Nachdem er bereits 1822 in Wien Triumphe gefeiert hatte, ging er nun nach London und liess sich sodann in Paris nieder, wo er behutsam seine Karriere als französischer Komponist anging; diese dritte Phase dauerte von 1825 bis 1829. Mit seinem fünften dort entstandenen Werk Guillaume Tell hatte er sich die höchste Leistung abgerungen, mehr konnte und wollte er nicht sagen. Wobei anzumerken ist, dass sein endgültiger Entscheid, nicht mehr für die Bühne zu schreiben, trotz allen Forschungen weiterhin mysteriös, widersprüchlich und umstritten bleibt. Vorerst lebte er zwischen Italien und Paris und liess als graue Eminenz und musikalisches Orakle seine Einfluss im Musikleben spielen. Reisen führten ihn nach Deutschland, Belgien und Spanien. In Madrid wurde ihm das Versprechen abgenommen, ein Stabat Mater zu komponieren, das er erst nach zehn Jahren vollendete und welches wie ein mächtiger Felsblock aus einer sonst fast schöpfungslosen Zeit herausragt. Die folgenden Jahre waren geprägt von einer langen und zermürbenden Krise, verursacht durch eine venerische Krankheit, die ihm vor allem auf die Moral drückte und sich in tiefen Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken äusserte. Seine erste Ehe mit der spanischen Sopranistin Isabella Colbran, die alle seine grossen dramatischen Rollen kreiert hatte, war 1822 ein Theatercoup gewesen, zerbrach aber schon bald. In zweiter Ehe heiratete er 1846 in der Französin Olympe Pélissier eine Frau, die seinem Leben die nötige Ruhe und straffe Organisation verlieh, die ihn diese schwere Zeit überhaupt durchstehen liess. Sie war es auch, die ihn 1855 zur Rückkehr nach Paris und zu Bäderreisen u.a. nach Wildbad bewegte. Damit trat eine rasche Besserung in seinem Befinden ein, er begann wieder regelmässig zu komponieren, und eine Unzahl von Klavier- und Vokalstücken zeugen von diesem zweiten Frühling. Als bedeutendstes Vermächtnis dieser Zeit entstand ein zweites grosses geistliches Werk, die Petite Messe solennelle. Er studierte die alten Meister wie Bach, und über Mozart sagte er, dass er für ihn „die Begeisterung meiner Jugend, die Verzweiflung meiner mittleren Jahre und der Trost meines Alters“ war. Das ist mehr als eines seiner Bonmots, es ist sozusagen eine Zusammenfassung seine Lebens uns vielleicht sogar der Schlüssel zu seinem rätselhaften „Aussteigen“. Im Alter von 76 Jahren starb Rossini 1868 in Paris.


Reto Müller, 1990/1999

Vortrag gehalten am 9. Juni 1999 im GENO-Haus Stuttgart anlässlich der Ausstellungseröffnung „Hommage an Rossini“.

 


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© Reto Müller, 16. Januar 2001