Und dass diese Wende 1830 genau in der Mitte seine Lebens eintraf,
entspricht, um es mit Paolo Isotta zu sagen, jener Geometrie
des Schicksal, die sich auch in anderen Punkten seiner Karriere
bemerkbar machte. Während einer knapp 20jährigen Aktivität
schrieb er rund vierzig Opern; genau in der Mitte seiner Schöpfungen
steht als zwanzigste Oper La Cenerentola, mit welcher er
das Genre der Opera buffa auf seine Art vollendete. Zwischen seinem
ersten grossen Durchbruch mit Tancredi von 1813 und seiner
letzten für Italien geschriebenen Oper Semiramide von
1823 liegen genau zehn Jahre, und es ist ein seltsamer Zufall, dass
diese beiden so wichtigen Meilensteinen in Zusammenarbeit mit dem
selben Librettisten, Gaetano Rossi, beide nach Tragödien von
Voltaire, beide für Venedig und für das selbe Theater
La Fenice entstanden sind.
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Bei soviel geometrischer Schicksalhaftigkeit verwundert es nicht,
dass Rossini selbst einen ausgesprochenen Ordnungssinn hatte und
klare Strukturen liebte. Es mag an der Erfordernissen des venezianischen
Kleintheaters San Moisè gelegen haben, dass alle seine dort
entstandenen Farse strukturell einander wie Ostereier gleichen;
aber auch in seinen folgenden Werken, komischen und ernsten, und
nicht zuletzt in seinem sprühenden Ouvertüren ist ein
klarer, rossinischer Archetypus festzustellen. Und sein letztes
Werk, Guillaume Tell, ist von der kleinsten musikalischen
Zelle bis hin zur Aktaufteilung auf die vierteilige Form aufgebaut.
Seine Péchés de vieillesse, die Alterssünden,
ordnete er nach klaren Richtlinien in jeweils zwölfteilige
Alben. Auch in seiner Wohnung widerspiegelte sich die Ordnungsliebe,
wo nicht nur die Möbel ihren unverrückbaren, untereinander
abgestimmten Platz hatten, sondern auch seine Perücken und
seine Schreibwerkzeuge gradlinig aufgereiht waren.
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Dieser Ordnungssinn passt ebenso schlecht zum Künstlertypen
wie seine Geschäftstüchtigkeit. Im Gegensatz etwa zu einem
Mozart starb Rossini als reicher Mann, und sein Nachlass bildet
noch heute die Basis der Rossini-Stiftung in seiner Geburtsstadt
Pesaro. Obwohl (oder gerade weil) in armen Verhältnissen aufgewachsen,
entwickelte Rossinis schon als Knabe eine ausserordentliche Fähigkeit
für geschäftliche und finanzielle Belange. Seine Beharrlichkeit
auf diesem Gebiet liess ihn auch nicht vor langen Rechtsstreitigkeiten
zurückschrecken, ob er nun gegen die französische Regierung
eine lebenslängliche Rente durchsetzt oder einen Verleger wegen
unerlaubter Veröffentlichung seiner Stabat Maters verklagte.
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Trotz seiner einfachen Erziehung bewegte sich Rossini selbstsicher
und jovial im Kreis der gehobenen Gesellschaft und der gekrönten
Häupter. Später war ihm daran gelegen, seinem Ruf als
Konservativer Gegensteuer zu bieten. Denn nebst einem patriotischen
Rondò in seiner Italiana in Algeri oder dem ganzen
Guillaume Tell ist selbst die Krönungsoper Il viaggio
a Reims mehr eine Persiflage denn eine Huldigung. Dabei war
er aber alles andere als ein Revolutionär, hatte doch die Gefängnisstrafe
seines Vaters, der als echter Republikaner galt, ihre
abschreckende Wirkung nicht verfehlt. Rossini war eigentlich ein
unpolitischer Mensch, der sich mit den Mächtigen arrangierte
und vor allem seinen Frieden wollte.
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Dass Rossini ein Geniesser der Tafelfreuden war, belegen zahlreiche,
teils zu literarischen Leckerbissen gewordene Dankesbriefe an Freude,
die ihn mit Spezialitäten versorgten. Allerdings gehört
es zu den zähesten Legenden um die Person des Maestro, dass
er die Schreibfeder mit dem Kochlöffel vertauschte und zum
Erfinder kulinarischer Kompositionen wurde; nicht einmal ein immer
wieder zitiertes Rezept für eine Salatsauce stammt von ihm.
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Rossini war eine zu vielschichtige Persönlichkeit, um einfach
der lebensfrohe Geniesser und ausgelassene Optimist zu sein, den
seine spritzige Musik zu verraten scheint oder den uns die Legende
schildert. Hinter des Maske des Farceurs und der geistvollen Bonmots
versteckt sich ein zutiefst skeptischer Mensch. Seine Sätze
strotzen vor Doppel- und Dreisinnigkeiten, die den Angesprochenen
systematisch auf Abwege führen. So besitzt denn auch seine
Musik oft einen doppelschneidigen Charakter und bei einem Menschen,
der das ungetrübte Glück längst als Illusion erkannt
hat, kann es nicht verwundern, dass manch ein Happy-End-Finale bei
genauer Betrachtung einen nachdenklichen Unterton enthält.
- Gioachino
Rossini war die Kunst in die Wiege gelegt worden: Sein Vater war
Hornist, seine Mutter Sängerin. Schon früh reiste er mit
den Eltern von Theater zu Theater. Seine Jugend erlebte er vor allem
in der Romagna mit dem Zentrum Bologna, wo er die musikalischen
Studien erhielt und sich autodidaktisch die deutschen Meister Haydn
und Mozart aneignete, was zu jener Zeit alles andere als selbstverständlich
war. Seine Karriere als Opernkomponist lässt sich in drei Phasen
aufteilen: von 1810 bis 1814 komponiert er im Norden Italiens, im
Dreieck Venedig-Bologna-Mailand. In rascher Abfolge lieferte er
Einakter, komische und ernste Opern. La pietra del paragone
(Die Liebesprobe) machte ihn 1812 an der Mailänder Scala über
Nacht bekannt, während Tancredi im folgenden Jahr seinen
Ruf auch als Komponist ernster Opern festigte. 1815 holte ihn der
mächtige Theaterimpresario Barbaja nach Neapel, wo er rasch
Musikdirektor wurde; bis 1822 dauerte diese zweite Phase, während
der seine ambitiösesten Schöpfungen entstanden, allesamt
ernste Opern, darunter Elisabetta regina d'Inghilterra, Otello,
Mosè in Egitto, Ermione, Maometto II und Zelmira.
Gleichzeitig fuhr er fort, für andere italienische Städte
in einem konventionelleren Stil zu schreiben, darunter auch komische
Werke, darunter der Barbiere di Siviglia. Diese beiden Linien
verschmolz und besiegelte er 1823 mit seiner letzten für Italien
geschriebenen Oper Semiramide. Nachdem er bereits 1822 in
Wien Triumphe gefeiert hatte, ging er nun nach London und liess
sich sodann in Paris nieder, wo er behutsam seine Karriere als französischer
Komponist anging; diese dritte Phase dauerte von 1825 bis 1829.
Mit seinem fünften dort entstandenen Werk Guillaume Tell
hatte er sich die höchste Leistung abgerungen, mehr konnte
und wollte er nicht sagen. Wobei anzumerken ist, dass sein endgültiger
Entscheid, nicht mehr für die Bühne zu schreiben, trotz
allen Forschungen weiterhin mysteriös, widersprüchlich
und umstritten bleibt. Vorerst lebte er zwischen Italien und Paris
und liess als graue Eminenz und musikalisches Orakle seine Einfluss
im Musikleben spielen. Reisen führten ihn nach Deutschland,
Belgien und Spanien. In Madrid wurde ihm das Versprechen abgenommen,
ein Stabat Mater zu komponieren, das er erst nach zehn Jahren
vollendete und welches wie ein mächtiger Felsblock aus einer
sonst fast schöpfungslosen Zeit herausragt. Die folgenden Jahre
waren geprägt von einer langen und zermürbenden Krise,
verursacht durch eine venerische Krankheit, die ihm vor allem auf
die Moral drückte und sich in tiefen Depressionen bis hin zu
Selbstmordgedanken äusserte. Seine erste Ehe mit der spanischen
Sopranistin Isabella Colbran, die alle seine grossen dramatischen
Rollen kreiert hatte, war 1822 ein Theatercoup gewesen, zerbrach
aber schon bald. In zweiter Ehe heiratete er 1846 in der Französin
Olympe Pélissier eine Frau, die seinem Leben die nötige
Ruhe und straffe Organisation verlieh, die ihn diese schwere Zeit
überhaupt durchstehen liess. Sie war es auch, die ihn 1855
zur Rückkehr nach Paris und zu Bäderreisen u.a. nach Wildbad
bewegte. Damit trat eine rasche Besserung in seinem Befinden ein,
er begann wieder regelmässig zu komponieren, und eine Unzahl
von Klavier- und Vokalstücken zeugen von diesem zweiten Frühling.
Als bedeutendstes Vermächtnis dieser Zeit entstand ein zweites
grosses geistliches Werk, die Petite Messe solennelle. Er
studierte die alten Meister wie Bach, und über Mozart sagte
er, dass er für ihn die Begeisterung meiner Jugend, die
Verzweiflung meiner mittleren Jahre und der Trost meines Alters
war. Das ist mehr als eines seiner Bonmots, es ist sozusagen eine
Zusammenfassung seine Lebens uns vielleicht sogar der Schlüssel
zu seinem rätselhaften Aussteigen. Im Alter von
76 Jahren starb Rossini 1868 in Paris.
- Reto
Müller, 1990/1999
Vortrag
gehalten am 9. Juni 1999 im GENO-Haus Stuttgart anlässlich
der Ausstellungseröffnung Hommage an Rossini.
© Reto Müller, 16. Januar 2001
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