Moses als Künder von Rossinis musikalischer Bibel


Gioachino Rossini (1792–1868) ist eines der Hauptopfer, wenn es darum geht, das Theatralische und Opernhafte in der italienischen Kirchenmusik zu attackieren. Nicht besser erging es ihm, wenn vom Kirchenhaften in der Oper die Rede war. Goethe empörte sich nach der Weimarer Erstaufführung des Moses seinen freundlicher gesinnten Gästen gegenüber: „Und daß euer ‚Moses’ doch wirklich gar zu absurd ist, werdet ihr nicht leugnen. Sowie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten! Dies ist sehr unpassend. Wenn du beten willst, steht geschrieben, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Tür hinter dir zu. Aber auf dem Theater soll man nicht beten“ (Eckermann, Gespräche mit Goethe, 7. Oktober 1828). Das Eindringen kirchlicher Aspekte in die Bühnenwelt hat seinen Grund in der sozialen Funktion, die das Theater in Italien ausübte: Das gesellschaftliche Leben spielte sich allabendlich in den Logen der Opernhäuser ab; auch während der Quaresima – der dem Karneval folgenden Fastenzeit – mochte man auf diese Einrichtung nicht verzichten. Die Kirche bzw. die danach ausgerichteten behördlichen Bestimmungen verboten normale Opernhandlungen, erlaubten aber biblische Stoffe während der Quaresima. Dabei wurden, um die Konventionen der Oper zu wahren, meist biblische Stoffe mit einer weltlichen Handlung verknüpft: mit anderen Worten, die übliche Liebesgeschichte findet im Rahmen einer biblischen Episode statt. Schon zur Zeit seiner Italienischen Reise (1787) war Goethes diesbezügliches Urteil vernichtend: „Sie spielen hier [am San Carlo in Neapel] in den Fasten geistliche Opern, die sich von den weltlichen in gar nichts unterscheiden, als daß keine Ballette zwischen den Akten eingeschaltet sind; übrigens aber so bunt als möglich“. Rossini selbst hat sich schon in seinen frühesten Jahren mit dem „dramma con cori“ Ciro in Babilonia, geschrieben 1812 für die Quaresima in Ferrara, dieser Gattung zugewendet. Dabei wurde dramaturgisch und musikalisch ausgerechnet die Szene, die der Höhepunkt der Oper hätte werden können, das Festmahl des Belsazar mit den geheimnisvollen Worten Mene-Thekel-Phares, völlig verfehlt; das Oratorienhafte in der Oper blieb, was es eigentlich war: ein billiger Vorwand, Oper während der Fastenzeit spielen zu dürfen. In Neapel knüpfte Rossini 1818 mit Mosè in Egitto bewusst an die dortige, hochstehende Tradition auf dem Gebiet der Quaresima-Oper an und erneuerte das Genre durch innovative dramaturgisch-musikalische Vorgänge.

Dies ist bereits an der Struktur der Oper sichtbar, die biblische und private Handlung deutlich trennt. Den persönlichen Konflikten sind vorwiegend die Arien und Duette vorbehalten, während das Bibel-Drama in den Chor- und Ensembleszenen behandelt wird. Die große Introduktion umfasst die Finsternisszene und die anschließende Wiederkehr des Lichtes, während der andere tragende Pfeiler des ersten Aktes, das Finale I, die Plage des „Hagels und ein unaufhörliches Feuer unter dem Hagel“ darstellt. Dazwischen gibt es nur gerade ein Duett und eine Arie, in denen sich die Privathandlung abspielt, namentlich die Liebesgeschichte zwischen dem Hebräermädchen Elcia und dem Pharaonensohn Osiride, dessen Versuch, die Juden am Wegzug aus Ägypten zu hindern, um seine Geliebte nicht zu verlieren, praktisch zum Motor der Handlung wird. Sein Tod durch den Blitzschlag der göttlichen Rache – stellvertretend für die letzte der zehn biblischen Plagen, den Tod aller Erstgeborenen – bildet mit der Verzweiflungsarie der Elcia den Abschluss der Privathandlung am Ende des zweiten Aktes. Ein für Rossini unüblicher dritter Akt ist der Lösung der biblischen Geschichte vorbehalten, der Flucht der Juden aus Ägypten mit ihrem Gang durch das geteilte Rote Meer. Doch gerade hier gelang es Rossini erst in einem zweiten Anlauf, bei der Wiederaufnahme der Oper in der Quaresima 1819, diesem Akt das nötige musikalische Gewicht zu verleihen: mit der Hinzufügung des genialen Gebets „Dal tuo stellato soglio“, das übrigens in den neapolitanischen Opern-Oratorien in formaler Hinsicht einer langen Tradition entsprach.

Rossini und sein französischer Besucher, der Komponist Ferdinand Hérold, erkannten bald, dass sich diese Oper ausgezeichnet für die französische Hauptstadt eignen würde. Ein erster Plan, damit auf die große Bühne der Académie Royale de Musique zu gehen, wurde aber von den französischen Nationalisten abgeschmettert; 1822 gelang es Hérold wenigstens, die praktisch unveränderte italienische Fassung am Théâtre Italien aufführen zu lassen.

Als sich Rossini 1824 selbst in Paris niederließ, tastete er sich trotz der Ungeduld von Publikum und Presse nach einer neuen Oper vorsichtig und durchdacht an den Stil der französischen Oper heran. Dazu wählte er zwei frühere neapolitanische Opern, die sich von ihrem Wesen her am besten eigneten, um für die französische Bühne umgearbeitet zu werden, nämlich Maometto II und Mosè in Egitto. Aus Ersterer entstand 1826 Le Siège de Corinthe, und die Kritiker feierten den Anfang einer neuen Ära des französischen Opernstils. Bevor sich Rossini seiner originären französischen Oper widmete – sie sollte Wilhelm Tell zum Stoff haben –, bereitete er das Terrain weiter vor und machte aus dem Mosè in Egitto von 1818/19 einen Moïse et Pharaon ou Le Passage de la Mer Rouge, der am 26. März 1827 in Szene ging: Für die große Bühne der Académie Royale de Musique und für deren prunkvolle Inszenierungen eigneten sich die tableauhaften Chorszenen vorzüglich. Die Privathandlung tritt hier noch stärker als bei Mosè in Egitto zurück, womit auch die klare Trennung der beiden Handlungsstränge hinfällig wurde: Das Oratorienhafte, ausgedrückt durch große Chor- und Ensembleszenen, durch rezitativisch-deklamatorische Passagen und durch eine ausgeprägte Orchesterkommentierung, bestimmt hier durchgehend den Werkcharakter. Diesen einheitlich-neuen Stil erreichte Rossini durch die Verwendung fast aller bedeutender Stücke aus Mosè in Egitto, durch einige Anleihen aus früheren Opern und nicht zuletzt durch Hinzufügung ganz neuer Musik. Diese neuen Stücke sollten es denn auch sein, welche schon sehr direkt den Guillaume Tell vorwegnehmen. Bedeutungsvoll war der dritte Akt, der fast vollständig aus neuer Musik bestand: einerseits die umfangreiche handlungsimmanente Ballettmusik, anderseits das großartige Aktfinale. In der Konfrontation zwischen Moses und seinem Volk auf der einen und dem Oberpriester Osiride und den ägyptischen Soldaten auf der anderen Seite finden wir die perfekte Schablone für den dritten Akt von Guillaume Tell, wo die Schweizer dem Wüten Gesslers gegenüberstehen. Im Finale dieses Aktes zeigt sich Rossini auf einer kompositorischen Höhe, die auch im Tell nicht überboten wird. Ähnliches kann über die neue Verzweiflungsarie der Anaï (vormals Elcia) gesagt werden. Diese Nummer ist zweifellos das beste, modernste, faszinierendste und dramatischste neue Stück der ganzen Oper. „Quelle horrible destinée“ zeichnet hervorragend die psychologisch verzweifelte Situation Anaïs, die nicht aus einer vollendeten Tatsache entsteht (denn Aménophis alias Osiride wird hier nicht vom Blitz erschlagen), sondern aus dem Ringen um den Liebesverzicht heraus, zu dem sie die Treue zu ihrem Volk drängt. Ohne die übliche langsame Einleitung gibt sich Anaï sofort einem schnellen, gedrängten dramatischen Ausbruch hin. Die Begleitung ist außerordentlich dicht, und der ganze erste Teil der Arie wird von einer bewegten Zeichnung von Sechzehntelnoten der Violinen begleitet. Der zweite Teil „Je l’aimais!“ besticht durch seine eigenständige Führung der Vokallinie, die durch das Eingreifen des Chores noch hervorgehoben wird. Dieser neue dramatische Ausdruck, den Rossini hier gefunden hat, wirkte als Beispiel und Vorlage für die große Arie der Mathilde im dritten Akt von Guillaume Tell, und wenn die Vorlage sogar noch dramatischer und expressiver wirkt, so liegt das daran, dass die persönliche Betroffenheit des Mädchens stärker ist als jene der Prinzessin über den Mord an Arnolds Vater.

Eine weitere Idee zielte bereits direkt auf den Tell ab: Dem sinfonischen Finale mit der Meeresstille, nur mit leichten Veränderungen aus Mosè in Egitto übernommen, ließ Rossini einen Gebetschoral der dankenden Juden nach ihrer Rettung folgen: Dieser Cantique existiert im Klavierauszug von Rossinis Verleger Troupenas, nicht aber in dessen Partiturausgabe, und es scheint, dass er zu Rossinis Lebzeiten nie aufgeführt wurde. Die Beweggründe für diesen Strich kennen wir nicht; wenigstens blieb Goethe davor verschont, auch noch zum Ende der Oper mit einem Gebet coram publico konfrontiert zu werden. Die Idee des Schlusschorals ließ Rossini aber nicht los: sein Tell endet mit einer Apotheose, die ein Cantique an die Freiheit und an die Natur und damit an die göttliche Allmacht darstellt. In Le Siège de Corinthe hat Rossini erstmals das tragische Finale von großen Dimensionen eingeführt, und die Schlussanweisung im Libretto-Manuskript „Le rideau baisse sur cet horrible tableau“ wurde schon bei Aubers La Muette de Portici (1828) und den meisten folgenden Grand-Opéras zum Muster. Im Gegensatz zu diesem durchaus tragischen Schluss nimmt Moïse die Lösung von Guillaume Tell vorweg: Beide weisen ein sublim-erhabenes Finale auf, wo man das lang unterdrückte Volk aufatmen sieht. Le Siège ist teilweise eine formale Vorzeichnung des Tell (beide haben z.B. eine Ouvertüre, welche bei Moïse fehlt), während Moïse eine Vorlage zu dessen Stil ist: Das Göttlich-Erhabene des Moïse wird zum Patriotisch-Erhabenen im Tell, oder wie es Leopold Kantner ausdrückte: „Die patriotische Sphäre wird vergöttlicht“. Auch die Titelhelden gehören durch ihr „Nicht-Singen“ demselben Genre an: Ihre plakative Führerrolle wird stilistisch von den anderen, sich ständig wandelnden Personen abgegrenzt, indem sie fast nur rezitieren und deklamieren. Kein Wunder, meinte Donizetti, dass Gottvater selbst an der Komposition beteiligt war. Und Bellini nannte den Tell nichts weniger als seine musikalische Bibel. Moses kündigte es bereits an.


Nachwort

Rasch verbreitete sich die neue Version in ganz Europa. In ihrer deutschen Übersetzung hörte sie Goethe im Oktober 1828 in Weimar. In Italien gelangte das Werk selbstredend in der italienischen Übersetzung auf die Bühnen, und ab diesem Zeitpunkt ist es im Nachhinein kaum mehr zu unterscheiden, ob die Neapolitaner oder die Pariser Fassung gespielt wurde, es sei denn, letztere wurde ausdrücklich unter dem Titel Il Nuovo Mosè gegeben. In dieser Fassung, teilweise bedingt durch die Rückübersetzung, teilweise etabliert durch die Aufführungspraxis, wurden einige idiomatische Eigenheiten, der nur die Pariser Hauptbühne entsprechen konnte, rückgängig gemacht. So wird die Sprache schnörkelloser – wo möglich, wurde auf die alten Verse der Neapolitaner Version zurückgegriffen und somit die psychologische Differenzierung der Personen wieder eingeebnet –, und die ganzen Bühnenanweisungen, welche nur in Paris umzusetzen waren, wurden im Libretto eliminiert. Lange Rezitativpassagen, welche der erzählerischen Ausschmückung dienten, wurden drastisch gekürzt; ebenso erging es den Balletten, wenn nicht gar ganz auf sie verzichtet wurde. Dies alles führte zu einer eigenen, mit dem französischen Original unverwechselbaren Rhetorik, die sich auf das Elementare beschränkte und in einem gewissen Sinn bereits die risorgimentale Freiheitsoper Verdischer Prägung vorwegnahm.

Aus: «Moderne Sprachen» (Zeitschrift des Verbandes der österreichischen Neuphilologen, herausgegeben von Thomas Lindner), Nr. 46/2 (2002), S. 87-90.

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© Reto Müller, 24. Dezember 2002